Etwas Prosa

ALLE GRAUEN KATZEN

aus Nachtlager

Seidene Röcke flattern gegen glatt rasierte Beine. Über den Seitenspiegel beobachtet Daniel die Straße. Er wünscht sich, dass der Wind noch etwas stärker wehen würde. Zwischen seinen Fingern zerreibt er ein altes Autogramm von Alessandro Zanardi. Alessandro Zanardi war Formel-1-Rennfahrer und verlor bei einem Rennen 2001 beide Beine. Daniel hatte ihn bei einer Veranstaltung in Berlin gesehen, anlässlich einer Spendengala. Alessandro trat sehr gelassen und doch selbstbewusst auf. Als er mit seinem Rollstuhl stecken blieb, lachte er nur über sein Missgeschick und machte einen Handstand auf den Lehnen.

Das hatte Daniel zuerst irritiert und dann beeindruckt. Er saß zu diesem Zeitpunkt selbst im Rollstuhl, daheim vor dem Fernseher.

Daniel murmelt ein paar Wörter vor sich hin.
“Sieben Jahre…hier und heute…wollte ich vor ihnen stehen.”
Ein kurzer Blick auf die Uhr. Es ist 16:24 Uhr. Er muss jetzt los, wenn er es noch rechtzeitig schaffen will. Mit einer etwas ungelenken Bewegung hebelt er die Autotür auf. Zwei Krankenwagen rasen an ihm vorbei. Blätter wirbeln um seinen Kopf. Die Sirenen sind ein vertrauter Klang. Eigentlich müssten sie ihn auf die bevorstehende Begegnung einstimmen, dabei verdeutlichen sie ihm nur, dass er noch nicht wirklich in diesem Moment angekommen ist. Er läuft geradewegs auf den Hoteleingang zu. Seine Schritte sind unsicher. Es ist nicht mehr die Verletzung, welche ihm zu schaffen macht. Es ist die Anspannung.

Vor der Rezeption rottet sich ein Rudel Anzugträger zusammen. Gefangen in einem Moment grotesker Männlichkeitsbeweise reiben sie ihre geschwollenen Brüste aneinander. Daniel setzt sich auf einen der roten Sessel in der Lobby und beobachtet, wie einige dieser kahl rasierten Büffel ihre polierten Hörner verkeilen. Er muss seine Kräfte schonen. Hinter ihm plätschert Wasser in einen überaus hässlichen 1990er Jahre Edelstahlbrunnen. Er überlegt, wie viele Stunden er auf geschäftlichen Tagungen wie diesen verbracht hat. Er wird seine Verwandlung hier und heute abschließen. Sein Äußeres zu verändern, ist einfach. Der Vollbart und die schlecht sitzende Jeanshose grenzen ihn bereits eindeutig von all den anderen männlichen Personen in diesem Raum ab. Das Innere zu verändern, dauerhaft und nachhaltig, das ist ein Herausforderung, welche Zeit und Mut, aber vor allem Durchhaltevermögen erfordert. Er weiß genau, was ihm noch fehlt oder anders gesagt, wer ihm fehlt. Die Begegnung wird alles verändern.

Er kennt die Zimmernummer noch und wenn ihn seine Erinnerung nicht täuscht, weiß er, wo und wann er zu warten hat. Der Gang im ersten Stock ist verlassen. Die Glühbirnen in den Lampen summen. Die Reibung zwischen den Sohlen seiner Schuhe und dem beigefarbenen Teppichboden lädt seinen Körper statisch auf. 112. Das ist das Zimmer. Er bleibt stehen. Das Zimmer nebenan wird gerade gereinigt. Eine zierliche junge Frau mit schwarzen Haaren und blonden Strähnchen nimmt Daniel zwar aus dem Augenwinkel wahr, aber macht keine Anstalten in irgendeiner Weise auf ihn zu reagieren. Sie stöpselt den Staubsauger ein und beginnt zu saugen. Er betrachtet ihre weiße Bluse und den schwarzen Rock. Unter ihrer fast blickdichten beigen Strumpfhose leuchtet ein Clown-Tattoo auf ihrer rechten Wade hervor. Als die Putzfrau sich umdreht, verliert Daniel fast den Halt. Hastig fummelt er einen Briefumschlag aus seiner Jackentasche und platziert ihn gut sichtbar auf dem Reinigungswagen, welcher unmittelbar vor der Zimmertür parkt.

Auf dem Umschlag steht eine dreistellige Nummer. Die Nummer auf dem Umschlag und die des Zimmers sind identisch, es ist die Zahl 112.

Die Fahrstuhltür öffnet sich. Ohne Mühe erkennt Daniel diesen Gang sofort. Die hohe Schrittfrequenz, links ein Plattfuß, der rechte Fuß rollte nur halb ab. Und natürlich, das Geklimper mit dem Schlüssel.
“Katz, mein Gott, Sie altes Schreckgespenst, sind Sie das? Sie können ja wieder gehen! Wohl in eine Steckdose gefasst, was? Und einen Bart haben sie jetzt auch.”
Daniel ist von der Plötzlichkeit der Begegnung überrumpelt.
„Sieben Jahre.“
Er hatte sich bereits jedes Wort tausendfach zurechtgelegt, immer wieder von Neuem überlegt, was er sagen würde, wenn der Moment da wäre. Doch heraus kamen nur diese zwei. Er fühlt, wie ihn eine Lähmung befällt. Als würde ihm jemand ganz sachte die Luft abdrücken.
„Sprachlos, was? Sie waren schon immer ein Träumer.“
Er will weitergehen, da packt Daniel ihn am Arm.
„Nein, ich sagte…sieben Jahre. Sieben Jahre seit dem Unfall. Sieben Jahre harte Arbeit und ich habe es geschafft. Ich kann wieder gehen, Herr Spalt.“
Spalt runzelt die Stirn.
“Na dann, viel Spaß beim Weitergehen!”
Er findet seine Bemerkung sehr amüsant. Daniel ist gefasst und ruhig. Spalt dreht sich um.
“Halt! Ich meine, warten Sie doch einen kleinen Augenblick…bitte.”
Daniel findet einfach nicht den richtigen Ton.
“Ja, was denn? Ich habe gleich noch ein Meeting.”
Spalt wischt auf seinem iPhone herum.
“Ich wollte Ihnen noch danken.”
“Ja, legen Sie los. Bin ziemlich busy heut‘!”
“Nach dem Unfall und der Kündigung wusste ich nicht mehr, wie es weitergehen soll. Aber Sie, Herr Spalt, Sie haben mich inspiriert. Jeden einzelnen Tag dieser sieben Jahre haben Sie mich motiviert, wieder auf die Beine zu kommen.”
Spalt schaut ihn an. Auf seinem Smartphone läuft gerade ein YouTube-Video.
„Ach, tatsächlich?”
„Noch nie zuvor in meinem Leben habe ich so etwas durchstehen müssen. Schmerzen können einen tatsächlich verrückt machen. Zumindest war ich kurz davor. Doch ich wusste, wenn ich nicht eines Tages wieder vor Ihnen stehen kann…das hätte ich mir nie verziehen.”
„Nice nice. Freut mich. Ich habe Sie immer für einen Träumer gehalten, Katz. Einer, der nicht das richtige Mindset hat. Und nach dem Unfall, nun ja, Sie wissen ja, der Overhead, die Kosten, die dann auf die Company zukommen, wenn man einen Behinderten, also Invaliden. Nein! Was sagt man heute? Man sagt nicht Krüppel. Wie auch immer, wenn man jemanden wie Sie in der Firma hat. Das ist zu viel tote Fracht, Deadweight, Sie verstehen!?”
Spalt klopft Daniel auf die Schulter, als ob er ein kleiner Junge wäre, dem das Eis heruntergefallen ist.
“Ich kann’s mir vorstellen.”
„Perfekt, perfekt. Wenn Sie runtergehen Katz, geben Sie das hier mal an der Rezeption für mich ab.”
Spalt drückt ihm eine Art Teilnehmerliste in die Hand. Spalt dreht sich um und geht. Daniel blickt auf die Zettel in seiner Hand und fühlt sich machtlos. Er schaut Spalt nach und kommt auf einmal zur Besinnung. Er zerknüllt die Liste und wirft sie Spalt an den Hinterkopf.
Spalt dreht sich um und lässt sein Smartphone in seine Sakkotasche gleiten.
„Einen Teil von mir selbst zu verlieren, hat mir erst bewusst gemacht, was ich mir wirklich wert bin.”
“Was ist Ihr Problem, Katz? Was labern Sie mich hier voll.“
Daniel geht einen Schritt zurück.
“Da geht mal eine Kleinigkeit schief und schon fangen sie an rumzuheulen. Leute wie Sie sind das Problem. Weil Sie einfach keine Eier haben, verstehen Sie!? Sie haben keine Eier! Sie sind ein Verlierer! Ein beschissener Verlierer!”
Daniel und Spalt stehen allein auf dem Gang. Das Surren des Staubsaugers schwebt durch die abgestandene, von Duftnoten schwindlig geschwängerte, Luft.
“Ich habe nichts mehr zu verlieren, Herr Spalt. Vieles was mir einmal wichtig war, hat heute keine Bedeutung mehr für mich. Menschen, von denen ich meinte, ohne Sie nicht leben zu können, haben mich verlassen. Ich kann nicht sagen, dass es mir deswegen besser geht. Ich habe einfach gelernt, damit zu leben.”
“Langweilig. Das ist ganz einfach langweilig, Katz. Tun Sie sich selbst einen Gefallen und laufen Sie mir nicht mehr über den Weg.”
Spalt geht. Daniel ruft ihm hinterher.
“Wollen Sie denn gar nicht wissen, wie Sie mich motiviert haben? Weswegen ich heute vor Ihnen stehe?”
“Es könnte mir nicht mehr am Arsch vorbeigehen!”
“Glauben Sie mir Herr Spalt. Das wird es nicht, ganz und gar nicht.“
Spalt rollt mit den Augen, als auf einmal die Lichter im Flur zu flackern anfangen. Daniel, zu neuem Selbstbewusstsein erstarkt, spricht weiter.
“Ich wollte hier und heute vor Ihnen stehen, auf meinen zwei Beinen, nach allem was passiert ist, nach dem Unfall, für den Sie verantwortlich waren, nach all den Herabwürdigungen und der Kündigung, um Ihnen mit diesen, mit meinen zwei Beinen, in den Arsch zu treten! Wenn noch Zeit sein sollte, poliere ich Ihnen auch noch die Fresse. Und so wie es aussieht, habe ich heute keine weiteren Termine.”
Spalt lacht.
“Oh Mann, meinen Sie nicht, Sie tragen etwas dick auf.”
Daniel zieht seine Jacke aus und wirft sie neben sich.
“Was wird das, Katz?“

Im Schnitt sollte jeder Krankenwagen maximal 10 Minuten zum Einsatzort brauchen. Nach 3 Minuten Herzstillstand besteht für die Wiederbelebung eines Menschen eine 95-prozentige Wahrscheinlichkeit. Nach 10 Minuten sinkt diese Wahrscheinlichkeit auf 5 Prozent. Das Erzählen einer Geschichte oder eines Witzes hat viel mit Timing zu tun. Viele Menschen, die Nahtoderfahrungen oder ähnlich einschneidende Situationen durchlebt haben, berichteten im Nachhinein davon, dass ihnen ihr Zeitgefühl in diesem Moment völlig abhanden gekommen sei. Daniel hatte lange Zeit Angst vor der Begegnung mit Spalt. Doch er wusste, dass kein Weg daran vorbeiführen würde.

Er wollte ihn nicht umbringen, obwohl er diverse Fantasien in Zeiten der absoluten Not mehrfach durchgespielt hatte. Eine davon beinhaltete drei Flaschen eines billigen Wodkas, einen Laubsauger, fünf Meter Stacheldraht und ein DuPont-Feuerzeug.

Er wollte Spalt nur etwas von dem Schmerz zurückgeben, den er ihm zugefügt hat. Die Konsequenzen waren ihm bewusst, er ignorierte sie nur sehr gekonnt. So oder so würde er seine Geschichte umschreiben und nicht zu einem Witz verkommen lassen. Dummerweise war ihm sein Zeitgefühl schon jetzt abhanden gekommen.

Weit aufgerissene Augen, gereckter Hals. Spalts frettchenhafter Blick signalisiert Stress und Unsicherheit.
“Oh mein Gott, Sie wollen das jetzt wirklich durchziehen?”
“So sieht’s aus, Spalt.” Der Satz flutscht absolut lässig aus Daniel heraus, als hätte Clint Eastwood persönlich von seinem Körper Besitz ergriffen.
Spalt zittert. Sich in solch einer Situation wiederzufinden, damit hatte er nicht gerechnet. Der Tag hatte wie immer begonnen, mit einem Proteinshake und zwei Mal vor den Badezimmerspiegel wichsen. Daniel ist bereit, noch nie in seinem ganzen Leben war er zu irgendetwas so bereit wie in diesem Moment. Doch Bereitschaft allein nützt nicht viel. Nun, da der Moment da ist und sein erklärter Nemesis vor ihm steht, ist er unschlüssig, wie er beginnen soll.
„Was soll ich machen? Zuerst ein Schlag ins Gesicht, vielleicht auf die Nase? Oder eher ein Schwinger? Oder gleich ein Tritt gegen das Knie. Oder aber ich verpasse ihm eine satte Ohrfeige, schön mit Dampf, um ihn aus seiner Totenstarre zu wecken.“
Spalts Glieder versteifen sich immer mehr. Er bemerkte es, ganz deutlich sogar. Es sind nicht nur seine Arme und Beine, auch sein fünftes Glied wächst unter dem Druck der Situation. Doch warum? Peinlichkeit mischt sich in diesen Moment der unmittelbaren Gefahr und Konfrontation. Worin liegt die Ursache dafür? Er kann es sich selbst nicht erklären. Ist die strenge Erziehung durch seine Mutter verantwortlich, die vielen Erinnerungen an freudlose Kindheitstage voller Zwänge und Unterdrückung? Bilder seiner ersten homoerotischen Erfahrung platzen in das Wirrwarr aus Gedankensplittern. Das hatte er vollkommen verdrängt. Ein älterer Junge im Sommerlager hatte ihn geküsst und er hatte sich nicht gewehrt. Das Gegenteil war sogar der Fall gewesen. Er war damals gerade einmal 14, in diesem Ferienlager bei Minden. Hätte sein Vater davon Wind bekommen, wäre er nicht mehr nach Hause gefahren. Oder ist es diese unbändige Fixierung aufs eigene Fortkommen, welche ihm in diesem Moment eine gewisse Befriedigung beschert? Er hatte in einem Manager-Magazin gelesen, dass der Biss einer brasilianischen Wanderspinne neben Symptomen wie Schwindel, verschwommener Sicht, Herzrasen und Bluthochdruck zu einer mehrstündigen schmerzhaften Erektion führen kann. Aber hier sind keine Spinnen.

Während all diese Gummibälle durch seinen Verstand springen, ist Spalts Blick immer noch starr geradeaus gerichtet. Die Beule ist ausgewachsen und der Hosenstall wölbt sich. Das Zelt ist aufgeschlagen. Spalts Blick wandert nach unten, der Rest seines Körpers verharrt. Nun hat auch Daniel davon Notiz genommen. Er kann nicht anders, als es wahrzunehmen. Daniel denkt an seine Frau und wie sie ihn verließ, weil es nach seinem Unfall zu “innerhäuslichen Problemen” – so die Formulierung seines Psychologen – gekommen war. Das war für ihn nicht nur ein persönlicher Rückschlag, sondern rief in ihm auch Gefühle hervor, die er so noch nie erlebt hatte. Der Verlust seiner Männlichkeit war eines davon und das, obwohl es ihn immer amüsierte, wenn sich seine Kollegen in ihren Fähigkeiten gegenseitig testeten. Wer kann am meisten saufen, wer hat das dickste Auto, wer den größten Zollstock. Dieses Gefühl wühlte ihn auf, es zerfurchte ihn regelrecht. Und wenn er ganz ehrlich zu sich ist, müsste er zugeben, dass es, ironischer Weise, auch ein Grund dafür ist, weswegen er diese Konfrontation gesucht hat.

All diese Gedanken, all diese inneren Monologe, das alles geschieht binnen Sekunden. Jetzt! Daniel muss jetzt handeln! Reaktion folgt auf Aktion.

Daniel läuft an, zieht das rechte Bein zurück und tritt Spalt mit voller Wucht ins Gemächt. Vollspann. Volltreffer. Nachwuchs adé!

Spalts später Versuch, Daniels Tritt zu blocken, hatte lediglich dazu geführt, dass seine Eier – von denen er ja so angeregt gesprochen hatte – noch weiter in die Nähe von Daniels Fuß wanderten.

Spalt sinkt wie ein fallengelassener Dudelsack in sich zusammen. Das war’s. Der Moment ist vorbei. Spalt liegt bewusstlos am Boden. Im Zimmer neben ihnen wird immer noch gesaugt. Vor Daniel erstreckt sich ein langer Gang. Er kennt ihn gut. Er ist ihn viele Male hoch- und hinuntergerollt, in seinem Rollstuhl. Bis auf das Surren des Staubsaugers schlucken die burgunderfarbenen Wände jedes Geräusch. Daniel setzt sich in Bewegung, um den Gang erhobenen Hauptes bis zur Treppe zu laufen. Er fährt mit seinen Händen über die Tapete. Zimmer 111. Er fühlt die Unebenheiten im Stoff, jeden Riss in der Faser. Zimmer 110. Er blickt auf zur weißen Decke und fühlt sich geläutert. Zimmer 109. Zimmer 108. Kratzspuren auf dem Teppich. Zimmer 107. Zimmer 106. Zimmer 105. Das Glas der Leuchte hat einen Sprung. Zimmer 104. Zimmer 103. Zimmer 102. Schritte. Schnelle Schritte hinter ihm. Jemand rennt auf ihn zu. Daniel dreht sich um und sieht Spalt zu neuem Leben erwacht, heftig pumpend, der Kopf hochrot, die Zähne fletschend, bereit zum Angriff.
Er schreit: “Du verdammtes Arschloch! Ich mach‘ dich fertig!”
Daniel reagiert und hämmert Spalt seinen Ellenbogen ins Gesicht. Spalt taumelt ein paar Meter zurück und hält sich die blutende Nase. Er plumpst rücklings zu Boden.

Spalt springt auf, setzt erneut mit einem rechten Schwinger an. Daniel duckt sich unter dem Schlag hinweg, holt Schwung und verpasst Spalt seinerseits eine Rechte. Spalt ist kurz benommen, schüttelt es aber weg. Daniel ist euphorisiert und wagt sich vor. Beim Sprung nach vorne verliert er jedoch das Gleichgewicht und fällt zu Boden.
“Na, wir sind wohl doch nicht so gut zu Fuß.”
Spalt tritt nach Daniels Kopf und verfehlt diesen nur knapp. Er hüpft wie ein aufgescheuchter Pelikan herum, wedelt mit seinen Händen wie ein Preisboxer. Daniel liegt auf dem Boden und schafft es sogar ein paar Tritte von Spalt zu blocken. Zwei Tritte treffen jedoch, einer die Magengrube, der andere geht gegen die Brust. Er windet sich, hustet und spuckt Blut. Als er bemerkt, dass Spalt zu einem erneuten Tritt ansetzen will, nimmt er seine ganze verbleibende Kraft zusammen, springt auf und rennt den Gang zurück in Richtung des Zimmers 112. Spalt folgt ihm. Blut tropft auf den Teppich. Mit einer flüssigen Bewegung reißt Daniel den Reinigungswagen vom Boden und schleudert ihn seitlings gegen den gerade hinter ihm eintreffenden Spalt. K.O. Daniel hört die Ringglocke in weiter Ferne. Er fasst sich an die Lippe, hält sich den Magen. Er ringt nach Luft. Die Putzutensilien liegen verstreut auf dem Flur. Der Müllbeutel ist geplatzt und das meiste davon liegt auf Spalts Körper. Daniel bemerkt, wie die Putzfrau hinter ihm vorsichtig aus einer Zimmertür lugt und mit ihrem Smartphone filmt.
Daniel stützt sich auf seine Knie. Er ist vollkommen fertig.
“Was wird das? YouTube?”
“Instagram”, sagt sie und fügt hinzu, “das wird ne Story.”
“Verstehe.”
“Geht’s dem da gut?”, fragt sie und dreht das Smartphone von hochkant auf quer, während sie in die Szene zoomt.
“Der?“, Daniel hält kurz inne, „Der ist nur gestolpert.”
Sie werfen sich einen Blick zu und müssen beide lachen.
Er hebt seine Jacke auf und entgegneten der Putzfrau gelassen: “Das wird schon wieder.”
Triumphierend steigt er über seinen Kontrahenten hinweg. Die Putzfrau steckt das Smartphone in ihre Hosentasche. Sie bemerkt den Brief mit der Aufschrift “112”.
“Ihr Brief! Vergessen Sie nicht Ihren Brief.”
“Der gehört mir nicht.”
“Und was soll ich damit?”
“Kannste wegschmeißen.”

Sie reißt ihn an der Seite auf und findet darin ein bereits mehrfach zerrissenes Blatt Papier, welches mit Klebeband wieder zusammengefügt wurde. Auf dem Papier liest man, Datum: 12.01.2003; Adressat: Herr Daniel Katz, Freisinger Weg 2, 70597 Stuttgart; Überschrift: Kündigung.

So oder so ähnlich hätte es nach Daniel Katz‘ Vorstellung laufen sollen. Doch die Realität sah anders aus. Mit einer Flasche Wodka in der Hand hatte er es gerade so aus dem Auto in die Hotellobby geschafft, als ihn ein paar ehemalige Kollegen bereits freudig zuwinkten und ihn umarmten. Sie alle freuten sich sichtlich über seinen guten Zustand und verwickelten ihn in ein Gespräch. Seit wann er wieder gehen könne? Wie es ihm sonst so ginge? Ob er nicht Interesse hätte wieder in der Firma anzufangen? All dies warf seinen behutsam zurecht gelegten Zeitplan vollkommen durcheinander. Daniel Katz fand gar nicht die Zeit, in diese düstere Stimmung zu tauchen, die er für seinen Rachefeldzug so lange und sorgsam kultiviert hatte. Stattdessen nahm er an einer Bar Platz und wurde zu einer Menge Bier und Schnaps eingeladen. Irgendwann wurde die Menschentraube um ihn kleiner und als sich auch der letzte Kollege mit einem beherzten Handschlag verabschiedet hatte, war es bereits 19 Uhr. Ihm fiel wieder ein, warum er eigentlich hergekommen war. Er wollte seinen ehemaligen Chef und Nemesis, Hendrik B. Spalt, treffen und ihm in den Arsch treten. Katz erhob sich also von dem Barhocker und kippte erst einmal um. Was folgte war ein prüfender Blick. Ja, jeder hatte es gesehen. Katz rückte seine Kleidung zurecht, studierte noch etwas den Boden vor sich und tat dann so, als ob er etwas Verlorenes wiedergefunden hätte. Er eilte taumelnd in den ersten Stock und fand dort das Zimmer 112. Er hämmerte an die Tür, doch niemand öffnete ihm. War Spalt bereits wieder abgereist? Er hämmerte ein paar weitere Male dagegen, aber nichts. Der Versuch, sein Ohr behutsam an die Tür zu drücken, endete mit einem heftigen Schlag seiner Stirn gegen den Türspion. Als er sein Ohr endlich platziert hatte, konnte er nichts vernehmen. Es lief kein Fernseher. Da duschte auch niemand im Bad oder telefonierte im Zimmer. Katz verblieb in dieser Position für eine Weile. Er war sehr betrunken und müde. Das merkte er nun ganz deutlich.
“Was machen Sie da?”
Eine junge Dame in einem blauen Blazer mit Namensschild stand hinter Daniel und guckte ihn sehr ernst an.
“Was machen Sie da?”
“Ich suche…”
“Sind Sie ein Gast unseres Hotels?”
“Ähm, nicht direkt, also ich bin nur…Warum habe ich Sie nicht gehört?”
Daniel blickte nach unten, um zu überprüfen, ob die Frau Schuhe trug. Sie trug Schuhe.
“Wenn Sie kein Gast unseres Hotels sind, möchte ich Sie höflich auffordern zu gehen. Wir legen großen Wert darauf, unseren Gästen ein Maximum an Privatsphäre zu gewährleisten.”
Daniel war immer noch von der Tatsache irritiert, dass er sie nicht gehört hatte. Schließlich stand sie gerade mal einen halben Meter entfernt von ihm.
“Ich bin auf der Suche nach Hendrik B. Spalt.”
“Und Sie sind Herr?”
“Katz, ich heiße Daniel Katz.”
“Herr Katz, mein Name ist Tina Strauß, ich bin die Senior Vice Deputy Ressort Head Affairs Managerin for Accomodation & Leisure in diesem Hotel. Darf ich Sie bitten, solche Erkundigungen an unserer Rezeption einzuholen. Sollte ein Herr Hendrik Spalt in unserem Hotel zu Gast sein, kann der Concierge gerne versuchen, ihn telefonisch für Sie zu kontaktieren.”
“Danke, aber ich wollte ihm eigentlich persönlich auf’s Maul…”
Daniel stoppte die Ausführung, als ihm gewahr wurde, dass er gerade seinen Gedanken laut geäußert hatte.
“Wie bitte?”
Frau Strauß‘ Augen wurden größer und größer.
“Maulwurf!”, platzte Daniel heraus.
Frau Strauß‘ Augen zogen sich zurück. Große Verwunderung stand in ihr Gesicht geschrieben. Daniel hingegen freute sich darüber, wie schnell ihm dieses Wort eingefallen war.
“Ich verstehe nicht.”
“Ich auch nicht.”, antwortete Daniel so schnell es ihm nur möglich war, als ginge es um Geschwindigkeit und nicht um eine sinnvolle Argumentation in dieser Unterhaltung.
“Sind Sie alkoholisiert, Herr Katz?”
“Nun ja, sagen wir mal so, das Bier schmeckt wieder.”
“Kommen Sie bitte mit mir mit!”
“Ich weiß nicht, ob ich das kann.”
“Was meinen Sie damit?”
Daniel griff nach dem Türrahmen, um sich festzuhalten.
“Herr Katz, ich möchte nur sehr ungern den Sicherheitsdienst bemühen.”
“Ich möchte auch nicht, dass Sie das möchten.”
Er grinste dämlich.
“Herr Katz, Sie lassen mir keine andere Wahl.”
Tina Strauß, die Senior Vice Deputy Ressort Head Affairs Managerin for Accomodation & Leisure in diesem Hotel, zückte ihr Telefon.
“Nein, nein, halt, ich schaffe das, ich gehe, ich gehe.”
“Dann bitte, Herr Katz.”
“Gleich geht’s los.”
Daniel hangelte sich von Lampe zu Lampe an der Wand entlang. Neben ihm lief Frau Strauß.
“Sie laufen sehr leise.”
“Was?”
“Ach, nicht so wichtig.”

Beide nahmen den Fahrstuhl nach unten und Frau Strauß stütze Daniel freundlicherweise noch bis zur Rezeption.
“Herr Walter, unser Concierge, wird Ihnen ein Taxi rufen.”
“Ach, nicht nötig.”
“Ich denke doch.”
Sie legte eine Mappe mit Dokumenten hinter der Rezeption ab und flüsterte dem Concierge etwas ins Ohr.
Der Concierge befand sich bereits am Telefon, als Daniel hinter sich eine Stimme vernahm, die ihm sehr bekannt vorkam – zumindest war er davon überzeugt. Das war er! Das musste er sein. Hendrik B. Spalt, sein Nemesis, sein Erzfeind. Daran bestand für ihn kein Zweifel. Daniel drehte sich um und begann zu schreien.
“Sieben Jahre, du verdammter Drecksack, du hast mich sieben Jahre meines Lebens gekostet.”
Frau Strauß, die gerade die Lobby in Richtung Restaurant verlassen wollte, kehrte auf der Stelle um. Mit großer Anstrengung hievte sich Daniel in Richtung Spalt, der an der Sitzgruppe stand und telefonierte.
“Natürlich, du selbstgerechter Penner machst mal wieder auf Big Business. Doch mich verarschst du damit nicht.”
Spalt nahm keine Notiz von Katz. Erst als Daniel genau hinter ihm stand, drehte er sich um. Mit all seiner Kraft holte Daniel aus und schlug so fest es ging zu.

Der Schlag hatte gesessen. Tina Strauß lag bewusstlos am Boden. Daniel hatte sie voll erwischt. Bei dem Versuch, ihren Gast vor Katz‘ Angriff zu schützen, hatte sie sich im entscheidenden Moment dazwischen gedrängt. Der Mann, den Daniel für Spalt gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein vollkommen anderer. Wie sich später herausstellen sollte, arbeitete Spalt gar nicht mehr in der Firma, sondern hatte sich direkt nach dem Unfall, der Katz so schwer beeinträchtigt hatte, ganz und gar aus dem öffentlich Leben zurückgezogen. Und auch für seine Kündigung war sein ehemaliger Chef nicht verantwortlich gewesen. Was Frau Strauß betrifft, Daniel hatte ihr einen wackelnden Backenzahn ausgeschlagen und ein Schädel-Hirn-Trauma verpasst. Den Backenzahn wollte sie bei ihrem nächsten Zahnarztbesuch ziehen lassen.

Ein 14-jähriges Mädchen, namens Marissa Speckmann hatte zu Katz‘ Unglück, alles gefilmt und das Video sofort auf ihren, vor einer Woche eingerichteten, YouTube-Kanal hochgeladen. Das Video wurde über Nacht zum Hit und 14 Millionen Mal aufgerufen. Katz wurde wegen Körperverletzung verurteilt und wanderte für 2 Jahre in den Knast.